Alles kommt, wie es kommen soll
Über die alltägliche Teleologie, das Imaginäre und den identitären Kriegszustand
Es gibt einen netten Witz, der wie folgt lautet: »Mein Vater stammt aus Berlin, meine Mutter stammt aus Bayern, und ich wurde in Hamburg geboren - welch ein Zufall, dass wir uns überhaupt trafen!«
Dieser Witz zieht eine bestimmte Form des alltäglichen Denkens ins lächerliche. Diese Form des Denkens nennt sich »Teleologie«, was bedeutet, dass eine Handlung, ein Prozess usw. von dem Ziel (Telos) her bestimmt ist.
Bekannter ist dies vielleicht aus einer bestimmten Auslegung der Evolutionstheorie, die man in der Populärkultur häufiger antrifft. Dieser zufolge ist etwas, das in der Gegenwart existiert, (normativ) perfekt, der Höhepunkt der Entwicklung, weil es sich ansonsten nicht auf diese Art und Weise entwickelt hätte. Aus dem kontingenten und komplexen Prozess der Evolution wird so also retrospektiv ein notwendiger Prozess, der so schon gut und richtig ist, wie er gelaufen ist.
Im Alltag finden wir dieses Denken sehr häufig. Ob es nun ein Unfall oder Unglück ist, mit dem man konfrontiert wird (»Es konnte ja nur mich treffen! Und das auch noch ausgerechnet jetzt, anders war es nicht möglich?!«). Genau so läuft es auch mit Beziehungen, die man als ein mystisches Heimkehren interpretiert (»Ich habe die Richtige gefunden«) oder auch mit dem eigenen wirtschaftlichen Erfolg, wenn man besonders von sich als solipsistisches Hyperindividuum überzeugt ist (»Ich habe mir diesen Reichtum verdient«, »Ich bin ein Genie und deshalb bin ich an meine Position gekommen«, »Ich habe das ganz alleine geschafft«).
Es gibt einen Satz von Jacques Lacan, dem Zufolge ein Brief immer an seinem Bestimmungsort ankommen soll. Diesen kritisierte Derrida, da er seiner Lesart zufolge ein metaphysisches Überbleibsel der Teleologie war, die noch in Lacan steckte. Dem ist jedoch nicht so. Tatsächlich kann uns Lacan dabei helfen zu verstehen, wie dieser teleologische Effekt, den wir im Alltag so häufig beobachten können, zustande kommt.
Der Satz »Ein Brief kommt immer an seinem Bestimmungsort an.« lässt sich auf drei verschiedene Arten interpretieren und diese folgen den drei Lacanschen Registern des Imaginären, Symbolischen und Realen. Für uns ist hier das erste Register, das Imaginäre, wichtig.
Die Interpretation auf der imaginären Ebene lautet: Der Brief landet immer an seinem Bestimmungsort, weil der Ort, an dem der Brief landet, als sein Bestimmungsort definiert wird. Der (zufällige) Prozess wird vom Resultat her betrachtet, weshalb es so wirkt, als würde eine unsichtbare Hand, das Schicksal, Gott oder sonst etwas intervenieren, damit sich alles fügt, wie es ist.
Der Mechanismus, der dieser Illusion zugrundeliegt, ist ein “Kurzschluß”, eine Verwechslung des Stellenwertes in der symbolischen Struktur mit dem zufälligen imaginären Element, das sich auf dieser Position einfindet - wer auch immer sich auf dieser Position einfindet, ist der Adressat, weil ja den Adressaten gerade der Umstand definiert, daß er sich auf dieser Stelle eingefunden hat, und nicht etwa seine Eigenschaften, nicht der Umstand, daß dies “ausgerechnet er” war. […] Die Illusion, von der hier gesprochen wird, ist also ein Bestandteil des Ablaufes der ideologischen Anrufung selbst: indem ich mich im Ruf des ideologischen großen Anderen (Nation, Demokratie, Partei, Gott) als sein Adressat “erkenne”, indem dieser Ruf in mir “seinen Bestimmungsort erreicht”, begreife ich sozusagen automatisch, daß ich erst mit dieser “Erkenntnis” zu dem geworden bin, als was ich mich erkannt habe - indem ich mich im Anruf des großen Anderen “erkenne”, werde ich zu seinem Adressaten. (Slavoj Zizek, Liebe Dein Symptom wie Dich selbst!, S. 29f)
Diese Auslegung ist also alles andere als teleologisch. Ganz im Gegenteil deckt sie sogar den Mechanismus auf, der dieses teleologische Denken in Gang setzt.
Da ich keine Psychoanalytiker_in bin, kann ich hier natürlich sagen, dass dies keine allgemeingültige Auslegung ist, da sie eine nicht-psychotische Subjektstruktur voraussetzt.
Somit lässt sich jedoch verstehen, wie es dazu kommt, dass wir uns in unserer Rolle als notwendig, in unserer Position als zwingend sehen. Mit diesem Zwang kommt auch eine entsprechende Dringlichkeit. Würde man jetzt einen Schritt weiter gehen, dann müsste man mit Deleuze und Guattari sagen, dass das Imaginäre nie apolitisch ist. Das Imaginäre muss irgendwo herkommen. Der Ort, aus dem es generiert wird, ist das Symbolische, das Netzwerk verschiedener Bedeutungsfelder. In deren Kontext muss man diese persönliche Anrufung lesen.
Für die Durchquerung einer Phantasie (oder das auflösen eines Fetischs, re: Foucault) ist es notwendig das Nichts hinter dem Phantasma zu erblicken. Wenn wir uns angerufen fühlen, sollten wir nicht vergessen, dass es niemanden am anderen Ende der Leitung gibt: Der große Andere ist tot.
Diese Erkenntnis, besonders in ihrer politischen Auslegung, drängt sich heute noch einmal verschärft auf. Man muss dafür nur an den letzten rechtsradikalen Amoklauf denken. Diese »Helden« fühlen sich auch angerufen, narrativieren ihre kämpferische Existenz retrospektiv aufgrund des Ortes an dem sie sich wiederfinden, aufgrund der Position die sie beziehen sollen, die Person, die ihnen gesagt wird, die sie sein sollen. Es ist nicht eine einzelne Person, die es ihnen sagt, sondern ein Bedeutungsfeld, dass das Subjekt interpelliert und ausrichtet. Tucker Carlson und Lauren Southern sind nur einzelne Personen, in einem medialen Ökosystem, dass den identitären Krieg vorantreibt, Identitäten kreiert und zuschreibt (wenn bspw. von einem »race traitor« gesprochen wird, wenn einem die eigenen Mitmenschen nicht egal sind).
Der Finanzkapitalismus gründet auf einem Prozess der gnadenlosen Deterritorialisierung, die dazu führt, dass sich Angst unter denen ausbreitet, die mit der Prekarität des Alltags und der Gewalt des Arbeitsmarkts nicht umgehen können. Diese Angst erzeugt als Gegenreaktion wiederum die aggressive Reterritorialisierung durch diejenigen, die sich verzweifelt an nur irgendeine Form der Identität zu klammern versuchen, an nur irgendein Zugehörigkeitsgefühl, weil nämlich nur ein Zugehörigkeitsgefühl den Anschein eines Obdachs bzw. eine Art Schutz vermittelt. Doch jede Form der Zugehörigkeit ist eine trügerische Projektion des Geistes, ein täuschendes Empfinden, nichts als eine Falle. Da sich die eigene Zugehörigkeit allein durch einen Akt der Aggression gegen das Andere endgültig nachweisen lässt, wird uns die Summenwirkung aus finanzkapitalistischer Deterritorialisierung und identitärer Reterritorialisierung geradewegs auf einen dauerhaften Kriegszustand zuführen. (Franco ›Bifo‹ Berardi, Helden, S. 129)
Menschen suchen nach Obdach, weil sie denken ein Haus trennt sie von der Welt. Jedoch ist es hier das selbe wie mit dem Imaginären. Man mag es zwar für persönlich, abgeschottet usw. halten, jedoch kann man es nur für solches halten, weil es von einer Vielzahl materieller, diskursiver und semiotischer Felder überhaupt erst hervorgebracht und phantasmatisch als abgeschottet versichert wird. Der Ort, an dem man sich vor der Ideologie am sichersten fühlt, ist der Ort, an dem sie einen am leichtesten überfallen und von einem Besitz ergreifen kann. Aus diesem Grund sind es besonders die alten Häuser, in denen es spukt: durch den zeitlichen Abstand und das abblättern der Fassade, kann man die Geister erst erkennen, deren Spuren sonst neben Staub und Spinnenweben blind unter den Teppich gekehrt werden (vgl. Alison Rumfitt, Tell Me I’m Worthless).
Wie lässt sich ein Subjekt denken und konstituieren, dass sich gegen diese identitäre Markierung wehren kann? Eine mögliche Antwort dazu liefert Foucault: